Ich bin wieder hier. Zurück auf Sizilien, zurück in Realmonte. An jenem Ort, an dem einst alles begann – ohne dass ich es wusste. Salvo muss es da bereits geahnt haben. Ich hingegen brauchte noch ein bisschen, ein paar Monate vielleicht, bis es langsam dämmerte: Rosanero – das würden unsere Farben werden.
Rückblick: Es ist der 8. September 2021. Einer von elf Tagen auf Sizilien. Die Destination heißt Realmonte in der Provinz Agrigento. Ein Urlaub, der anders ist als die davor. Kein Hotel, kein Airbnb, kein Check-in ab 15:00 Uhr. Den ersten Espresso gibt es in der Sonne, auf dem Belvedere Villa Comunale – einer Aussichtsplattform, die trotz Baugerüsten und eines maximal zu lauten Grüppchens am Nachbartisch etwas Majestätisches ausstrahlt. Von dort geht es auf die SS624 – einmal quer durch Sizilien. Ziel: Palermo. Ich wusste, dass es Palermo gibt. Das war es aber auch. Ich wusste nicht, was man dort macht. Außer: irgendeinen Markt aufzusuchen. Was man halt so macht, wenn man einen Ausflug in die Hauptstadt unternimmt. Irgendeinen Markt – ihr merkt schon, ich war super vorbereitet.
Kein Plan, keine Panelle, dafür viel Palermo
Eines wird schnell klar: Palermo ist laut, schnell und voll. Nur am Rande nehme ich wahr, dass der FC Palermo hier offenbar das große Ding ist, wenn es um Fußball geht. Das Parkhaus, das wir uns fein säuberlich auf Google Maps herausgesucht haben? Fehlanzeige. Es existiert nicht. Stattdessen parken wir irgendwo am Straßenrand, auf einem Parkplatz, der eigentlich gar keiner ist, dafür aber von einem freundlich-durchsetzungsfähigen Mann gegen eine kleine Spende freigehalten wird. Ob der Mietwagen wohl abgeschleppt wird? Wo muss man dann eigentlich zuerst anrufen? Keine Ahnung. Ein Gefühl der Unsicherheit begleitet mich den ganzen Tag. Gepaart mit der Frage: Was hat es eigentlich mit diesen goldgelben Fladen auf sich, die hier an jeder Ecke verkauft werden?
Am Nachmittag treten wir wieder die Rückfahrt nach Realmonte an – ohne böse Parkplatz-Überraschungen, dafür reich an Eindrücken. Aber: ohne Panelle im Magen. Ein Versäumnis, das sich rückblickend anfühlt wie eine verpasste Gelegenheit mit Symbolkraft.
150 Kilometer südlich ist alles plötzlich wieder ruhig und vertraut. Im Gepäck: Kein Palermo-Trikot. Wie konnte das passieren? Ebenfalls ein schwerer Fehler. Dennoch drängt sich das Gefühl auf, dass dieser Tag mehr war als nur ein Ausflug. Heute weiß ich: Es muss der Anfang gewesen sein.
Realmonte durch die Rosanero-Brille
Zeitsprung: 8. April 2025. Auf den Tag genau drei Jahre und sieben Monate später komme ich erneut bei bestem Wetter in Realmonte an – diesmal mit einem ganz anderen Gefühl. Ich kenne mich aus, weiß, wo ich hin will. Die Aussichtsplattform ist fertig renoviert, ein Brunnen plätschert friedlich vor sich hin, kein Baulärm, kein zu lautes Grüppchen – nur die April-Sonne und eine perfekte Aussicht.
In der Panificio San Domenico hole ich mir selbstverständlich ein erkaltetes Pane e Panelle und laufe noch ein paar Meter, bevor ich mich im Supermarkt mit dem Nötigsten eindecke. Der Plan für den Rest des Tages ist einfach: Am Abend einen schönen Teller mit Pasta im Eclisse Cafè, danach früh schlafen gehen.
Am nächsten Morgen dann ein frischer Start. Ich trage Sergio Tacchini, weil der Pinien-Flakon von Pino Silvestre zwar der schönste der Welt ist, leider aber nicht mehr in den EU-genormten Flüssigkeitsbeutel gepasst hat. Ein Verlust, aber verschmerzbar.
Den ersten Espresso gibt es in der Bar Roma. Ein Auto mit Kennzeichen aus St. Ingbert parkt direkt vor meiner Nase in eine enge Parklücke ein. Es wirkt nicht mal mehr überraschend.
Der zweite Espresso folgt kurz danach in der Bar Belvedere, wo ich direkt bedient werde. Zu meinem Espresso erhalte ich sogar ungefragt ein Glas Wasser. Es scheint, als wäre ich ganz oben angekommen.
Einer der Gäste, Pasquale, Mitsechziger mit Sonnenbrille, winkt ab, behauptet mit voller Überzeugung in Richtung Wirt, der Lui sei Engländer. Die Uhr zeigt irgendwas mit 9:30 Uhr an. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir beide nicht, dass wir heute noch zusammen herumcruisen, Bier trinken und über Olivenbäume fachsimpeln werden. Hätte ich es gewusst, ich hätte mein Glück kaum geglaubt.
Gegen Mittag fährt mich Paolo, mein Gastgeber, zum Strand von Realmonte, an den Lido Rosello. Ich trage kurze Hose und – natürlich – eine FC-Palermo-Jacke, was ihn sichtlich irritiert. Er fragt, ob ich zu dieser Jahreszeit wirklich an den Strand und sogar ins Meer will. Und ob ich nicht friere. Ich sage: nein.
Er wirkt nicht überzeugt. Erst recht nicht von der Idee, schwimmen zu gehen. Ich bemerke, dass er mich mit schlechtem Gewissen hier unten absetzt – als wäre ich ein Hund an einer Autobahnraststätte. Dabei war ich nie klarer. Ich will ans Meer, auch wenn der Wind ein bisschen weht. Vielleicht gerade deshalb.
Die Mühe wird schon bald belohnt. Ich habe den Strand von Realmonte, inklusive der Scala dei Turchi stundenlang für mich allein. Ich esse etwas Frutta Fresca (im konkreten Fall eine Mischung aus Orangen, Bananen und Äpfeln) und trinke dazu ein Birra Moretti. Auch der kurze Ausflug ins Meer gelingt mir trotz anständigem Wellengang mühelos. Ich erreiche ein neues Level an Coolness.
Gegen 16:30 Uhr geht es zurück. Paolo holt mich netterweise wieder ab. Wer sich in Realmonte aufhält, stellt schon nach kurzer Zeit fest: Ohne Auto ist man hier ein Niemand. Ein Lutscher. Hier bringt man sogar den Müll mit dem Auto raus (habe ich gehört).
Auf dem Weg zum Treffpunkt begegne ich noch Carmel, einem kanadischen Rentner aus Toronto. „Hier in Italien würde ich Carmelo heißen“, sagt er und grinst, sichtlich zufrieden mit seiner mediterranen Zweitidentität. Er wohnt hier unten am Strand. Gerade beaufsichtigt er in bester Umarell-Manier ein paar Straßenarbeiter. Auch er fragt zu allererst, ob ich schwimmen war. Ich nicke. Er grinst und sagt: „Das ist gesund.“ Und ich frage mich, warum das heute die Frage aller Fragen zu sein scheint. Das Wetter in Realmomte ist warm und sonnig. Abseits des Schattens sind es gefühlte 30 Grad. Ich spüre, wie ich mir langsam einen leichten Sonnenbrand auf den Füßen zulege. Warum sollte man sich an solch einem Tag einen Dip ins Meer entgehen lassen?
Später treffe ich erneut auf Pasquale. Wir beschnuppern uns, wie zwei Hunde im Morgengrauen. „Was machst du hier?“, „Warum Realmonte?“, „Wen kennst du hier?“ Die Basics eben. Unsere Begegnung weckt neugierige Blicke. Schnell wird klar: Für den Rest des Tages werden wir hier so etwas wie Andrea Pirlo und Gennaro Gattuso sein – mindestens. Den anderen bleibt nur der neidische Blick.
Zielsicher steuern wir das Eclisse Cafè an – der Mann hat eindeutig Geschmack. Unterwegs fällt mir auf: Es gibt offenbar niemanden, den er hier nicht kennt. Hätte er zwischendurch Autogramme verteilt, ich hätte einfach so getan, als sei das das Normalste der Welt. Im Eclisse angekommen, gehört uns der Nebenraum ganz allein. Wir gönnen uns ein angenehm kühles Birra Messina (blaues Etikett) und tauschen Fotos aus.
Danach gibt es keine Zeit zu verlieren. Wir müssen noch zu seinen Olivenbäumen, um nach dem Rechten zu sehen. Auf dem Weg werfe ich spontan mit botanischen Fachbegriffen um mich: Cerasuola, Nocellara, Biancolilla. Eine gefühlte Ewigkeit habe ich darauf gewartet, diese Namen mal wie ein Boss zu droppen. Pasquale schaut überrascht, vielleicht sogar ein bisschen anerkennend. Der dürre Tedesco kennt sich offenbar aus. Das gefällt ihm. Mir auch. Selten fühlte ich mich cooler.
Wieder zurück am Piazza Umberto I trennen sich unsere Wege. Wir müssen Stunden miteinander verbracht haben. Die Zeit verging wie im Fluge und ich habe das Gefühl, in Pasquale den perfekten Buddy und Tourguide gefunden zu haben. Was für ein Glücksgriff.
Ich mache noch einen schnellen Abstecher zur Panificio Pilato und bestelle ein Scaccia mit Kartoffeln, Tomaten und Zwiebeln. Eigentlich bin ich schon seit gestern auf der Suche nach einem Scaccia mit Blumenkohl, aber ich habe auch heute kein Glück. Oder vielleicht doch Glück im Unglück? Die spontan angepriesene Alternative schmeckt nämlich so dermaßen gut, dass ich mir sofort ein il bis bestelle. Der Verkäufer, eben noch ein Eisklotz, zwinkert plötzlich und gibt mir obendrein die Gesto del Buono. Ich denke: Irgendwann laufe ich hier mit den alten Herren auf dem Piazza auf und ab. Nicht als Tourist, sondern als Teil des Szenarios. Und ja – dafür würde ich mir sogar eigens eine dieser FC-Palermo-Baseballcaps zulegen.
Plötzlich schließt sich der Kreis
Am Abend wird es ruhig in der Via Grande. Im Fernsehen läuft doch tatsächlich Noi Siamo Aquile sul 13. Das muss der Moment sein, in dem alles einen Sinn ergibt. Der Kreis scheint sich genau jetzt zu schließen. Damals hätte ich noch gedankenlos umgeschaltet. Heute schaue ich es mir natürlich an und denke zurück: drei Jahre und sieben Monate. Damals: keine Ahnung. Heute: immer noch keine Ahnung. Dafür aber Rosanero. Stadio Renzo Barbera. Curva Nord. Fachsimpeln mit Salvo über Transfers, Trainer und Trikots. Dazu unser eigener FC-Palermo-Blog, den wir mit Leidenschaft füllen. Warum? Wer weiß das schon. Es war ein schleichender Prozess. Aber: Er begann genau hier in Realmonte. Wir haben weder den Tag, noch die Uhrzeit irgendwo notiert. Irgendwann war es einfach klar. Vielleicht, weil wir gar keine Wahl hatten.
Eines scheint jedenfalls sicher: Ohne Realmonte kein Ausflug nach Palermo. Und ohne Ausflug nach Palermo kein Pasta Rosanero. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Oder vielleicht doch?